Zu den bemerkenswerten Kunstwerken der Stiftskirche gehören über dreißig Grabplatten und Epitaphien des 13. bis 18. Jahrhunderts. Diese große Zahl gestattet, an ausgewählten Beispielen die künstlerische Entwicklung und religiöse Aussage christlicher Grabmale durch die Jahrhunderte zu verfolgen.
Zunächst ein paar grundlegende Hinweise: Seit dem 10. Jahrhundert wurde Laien und Geistlichen, die sich um die Kirche besonders verdient gemacht hatten, das Privileg zuteil, in oder nahe an einer Kirche beerdigt zu werden. Dahinter stand die Hoffnung, in der Nähe des Altars die Fürbitte einer dankbaren Klostergemeinschaft oder Gemeinde für das eigene Seelenheil erlangen zu können. Ursprünglich lagen die meisten Grabplatten unmittelbar auf der ausgeschachteten Grabkammer in einer Ebene mit dem Fußboden und bedeckten weite Flächen des Kircheninneren. Aus Raumnot wurden später viele Grabplatten senkrecht an den Wänden aufgerichtet. In der Stiftskirche geschah dies vor allem während der umfassenden Restaurierung der Jahre 1853 - 1859. Im Unterschied zur Grabplatte ist das Epitaph (griechisch: "zum Begräbnis gehörig" im Sinne der Totenehrung) ein von Anfang an vom Begräbnisort getrenntes Gedächtnismal. Es sollte an die Verstorbenen erinnern und wurde an den Innen- und Außenwänden der Kirchen angebracht.
Die älteste Grabplatte der Stiftskirche stammt aus der Zeit um 1200. Vor wenigen Jahren wurde sie an der Nordseite des Turms geborgen und mit Sarkophagresten in das Stiftsinnere umgelagert (Abb. 4). Die trapezförmige Steinplatte zeigt im Halbrelief ein romanisches Vortragekreuz, wie es bei Prozessionen verwendet wurde. Der halbrunde Bogensockel, auf dem dieses Vortragekreuz steht, gilt in der christlichen Ikonographie als Symbol für den Kreuzigungsort Christi, den Hügel Golgatha. Höchst ungewöhnlich sind die beiden wurzelartigen Auswucherungen am unteren Stabende. Hat der mittelalterliche Bildhauer damit vielleicht das Vortragekreuz als im Erdreich verwurzelten "Baum des Lebens", als Symbol also einer lebendigen Auferstehungshoffnung darstellen wollen? Auf der Grabplatte befindet sich keine Inschrift, die auf die Person der oder des Verstorbenen hinweist. Die qualitätvolle Gestaltung und Oberflächenbearbeitung des Steins, nicht zuletzt auch der kirchennahe Begräbnisort deuten aber darauf hin, daß hier nicht irgendwer, sondern eine sich um das Wunstorfer Stift verdient gemachte Persönlichkeit beerdigt wurde.
Vom 13. Jahrhundert an verstärkte sich der Wunsch, sich anschaulich an die Verstorbenen zu erinnern. Immer häufiger zeigen die Grabplatten jetzt Bildnisse der Toten. Am Rand umlaufende Inschriften nennen Namen, Todesjahr und vor allem den Todestag wegen der jährlichen Gedächtnisfeier am Grab. Als Beispiel dafür sei auf zwei Grabplatten des 14. Jahrhunderts hingewiesen, die im nördlichen Querschiff nebeneinander an der Ostwand angebracht sind. Die eine Grabplatte stellt Graf Johann von Wunstorf und Roden dar. Als Herr über Stift und Stadt hält er in seinen Händen die Zeichen seines Standes, Schwert und Wappenschild.
Der steigende Löwe auf dem Schild ist noch heute im Wunstorfer Stadtwappen zu sehen. Als Sterbedatum des Grafen nennt die in gotischen Großbuchstaben ausgeführte Inschrift den Tag des hl. Ambrosius (4. April 1334). Auf der zweiten Grabplatte ist Graf Johann, wiederum mit Schwert und Wappenschild, an der Seite seiner 1358 verstorbenen Ehefrau Walburgis abgebildet. Die Figuren sind auf beiden Platten in Ritztechnik wiedergegeben. Schwache Reste zeigen, daß die eingetieften Umrißlinien ursprünglich mit farbigem Kitt sichtbarer gemacht waren. Hinter den Köpfen der Verstorbenen sind stilisierte Kissen zu sehen, sei altersher Symbole des Todes. Daß der Bildhauer beider Grabplatten freilich mehr als nur die Macht des Todes kannte, zeigt die Darstellung des gräflichen Paares. Es fällt auf, daß beide Verstorbenen ohne Rücksicht auf ihr wirkliches Sterbealter als jüngere Menschen in dem Alter abgebildet sind, in dem einst Christus gestorben und auferstanden ist. In der mittelalterlichen Kunst ist diese Darstellungsweise ein symbolischer Hinweis auf die Hoffnung der Auferstehung, die auch den jetzt Verstorbenen gilt.
In der Folgezeit werden die Grabplatten bewegter gestaltet. Das Bild des Verstorbenen tritt kräftiger im Relief hervor. Statt der einfachen figürlichen Darstellung wird eine Szene angedeutet, eine Frömmigkeitsäußerung des Verstorbenen, oft verbunden mit dem Gegenstand seiner Andacht. Unter den hierfür typischen Grabmalen der Stiftskirche ist die im südlichen Querschiff angebrachte Grabplatte des 1551 verstorbenen Clawes Friedrich besonders bemerkenswert. Die Grabplatte aus gelblichem Sandstein zeigt den Verstorbenen, der einem der Adelsgeschlechter aus den Burgmannshöfen Wunstorfs entstammte, als Ritter vor dem gekreuzigten Christus kniend, Helm und Schwert neben sich.
In der Grabmalkunst des Mittelalters gelten Ritterrüstung, Helm und Schwert nicht nur als Rangzeichen des Adels, sie haben auch religiöse Bedeutung. Am Beispiel des Verstorbenen wird dem Betrachter vor Augen gestellt, daß ein Leben in der Nachfolge Christi ein Kampf um das Gute sein soll. Gott aber darf für diesen Kampf und für die letzte Lebensstunde um Beistand gebeten werden. So sagt es die Inschrift am oberen Rand der Grabplatte: "misere mei Deus - Gott, erbarme dich meiner!".
Im Übergang vom 16. Zum 17. Jahrhundert richtet sich das künstlerische Interesse stärker auf denkmalhafte Epitaphien, die als Gedächtnismale, fern vom Begräbnisort, an die Verstorbenen erinnern sollen. Unter dem Einfluß der Renaissance, jener Epoche der geistigen und künstlerischen Wiederbelebung der Antike, enthalten diese Epitaphien, wie ihre antik-römischen Vorbilder, ausführliche Würdigungen von Rang, Stellung und Wesen der Verstorbenen. Ein beeindruckendes Beispiel dafür ist das im nördlichen Seitenschiff aufgehängte Holzepitaph, das der im Dienste Herzog Erich II. von Calenberg stehende Obrist Johann von Holle seiner 1568 verstorbenen Ehefrau Katharina setzen ließ. In lateinischen und deutschen Versen wird ausführlich der Verstorbenen gedacht. Doch nicht die wehmütige Erinnerung behält hier das letzte Wort, sondern eine Hoffnung, die stärker ist als Tod und Trauer: Derselbe Christus, der Lazarus auferweckte - wie auf der Ostseite des Epitaphs farbenprächtig dargestellt - wird als der Sieger über das Grab auch das durch den Tod getrennte Ehepaar wieder vereinen - so zeigt es das Tafelbild der Westseite. Biblische Verse im Wortlaut der Übersetzung Martin Luthers ergänzen die Bildaussagen dieses Renaissance-Epitaphs; sie dokumentieren zugleich, daß die Reformation Wunstorf erreicht hat: 1563 wird das Kanonissen- und Kanonikerstift in ein evangelisches Damenstift umgewandelt.
Von starker Aussagekraft sind auch die zum Teil farbig gefaßten frühbarocken Epitaphien des 17. Jahrhunderts im Chorraum, die dank ihrer ständigen Aufbewahrung in der Kirche sehr gut erhalten sind. In realistischer Figurendarstellung erinnern sie an Stiftsgeistliche und ihre Angehörigen. Kunstvolle Inschriften in lateinischer und deutscher Sprache weisen dabei auf kirchliche und akademische Titel, auf Ehrbarkeit und Gelehrsamkeit hin, doch sie verschweigen nicht, was am Ende des Lebens allein Gewicht hat: "Surrexit Christus spes mea: sic et ego - Christus ist auferstanden; meine Hoffnung ist, daß auch ich es werde" (Epitaph des 1607 verstorbenen Eustachius Leseberg, Südwand des Chorraums).
Ein abschließender Blick gilt dem Epitaph der 1751 verstorbenen Stiftsdechantin Sophie von Münchhausen, das an der Ostwand des nördlichen Querschiffs hängt. Von dem bedeutenden hannoverschen Bildhauer Johann Friedrich Ziesenis ohne Bildnis der Verstorbenen aus Stuck modelliert, schließt es eine Konsole mit vollfiguriger Putte, eine Inschrifttafel, sechzehn Wappenschilde und eine Freiherrnkrone zu einem lebhaft schwingenden, unsymmetrischen Ornament des Rokoko zusammen. Ein Vergleich mit den darunter angebrachten schlichten gotischen Grabplatten des Wunstorfer Grafenpaares zeigt anschaulich, welche Entwicklung die christliche Grabmalkunst im Laufe von vierhundert Jahren genommen hat. Gleichbleibend aber ist, daß auch dieses prachtvolle Rokoko-Epitaph im Unterschied zu so manchem heutigen Grabmal nicht nur auf das Leben der Verstorbenen zurückschaut, sondern die Hoffnung auf "das Unvergängliche, was droben im Himmel" im Blick behält.
Möge sich diese Hoffnung auch dem Betrachter von heute erschließen, wenn er bei einem Rundgang durch die Stiftskirche nun auch die übrigen Grabplatten und Epitaphien in Wort und Bild zu sich "sprechen" lässt.