Wenn Besucher die Stiftskirche betreten und zum höher gelegenen Chorraum schauen, fällt ihnen zunächst nur der monumentale Hochaltar aus der Mitte des 19. Jahrhunderts auf. Erst beim näheren Herantreten bemerken sie das wesentlich bedeutendere Kunstwerk des Chorraumes: ein an der Nordseite aufgerichtetes spätgotisches Sakramentshaus. Um 1500 wurde es aus Baumberger Sandstein, einem weichen und deshalb gut zu bearbeitenden Stein des Münsterlandes, angefertigt.
Welchem Zweck diente ein solches Sakramentshaus? Wie ist es entstanden? Ein Blick in die Geschichte der Abendmahlsfrömmigkeit gibt Auskunft: Schon um 400 nach Christi Geburt bewahrte man die geweihte Hostie, das Brot des heiligen Abendmahls, als Symbol für den Leib Christi im Nebenraum einer Kirche besonders geschützt auf. Mit dem 10. Jahrhundert kamen Hostienbehälter in Gebrauch, die entweder auf dem Altartisch standen oder, wenn ein Altarüberbau vorhanden war, von diesem herabhingen. Später entwickelten sich daraus aus Edelmetall schmuckreich gestaltete Behältnisse, sog. Monstranzen, in denen die geweihte Hostie hinter Glas zur Schau gestellt wurde. Vom 12. Jahrhundert an verschloss man das Altarsakrament oft auch in einem Wandschrank, dem sog. Wandtabernakel, oder in einer Wandnische, um es vor Mißbrauch und Diebstahl zu schützen. In den romanischen Seitenabsiden der Stiftskirche sind solche Wandnischen noch heute zu sehen.
Die besondere Sakramentsfrömmigkeit des Mittelalters beeinflusste die weitere Entwicklung. Aus der schlichten Wandnische und dem kostbarer gearbeiteten Wandtabernakel wurde im 14. und 15. Jahrhundert das von der Wand gelöste, aufwendig gestaltete Sakramentshaus. Turmartige Gebilde mit zum Teil beträchtlicher Höhe entstanden in dieser Zeit als bevorzugte Aufbewahrungsorte des Altarsakramentes. Das über sieben Meter hohe Sakramentshaus der Wunstorfer Stiftskirche ist ein beeindruckendes Beispiel dafür. Schauen wir es uns näher an.
Das Untergeschoss besteht aus drei rechteckigen Teilen, von denen der mittlere hervortritt. Diese Teile sind mit gotischem Maßwerk reich verziert und mit vierzehn Konsolen für Statuetten versehen. Leider sind die Statuetten verschollen. Es folgen nach einem Laubwerk-Gesims drei mit verschließbaren Gittertüren versehene Schreine aus Stein, die einst das Altarsakrament aufnahmen. Dieser Dreiteilung liegen nicht nur ästhetische Gesichtspunkte zugrunde. Seit altersher wird in der kirchlichen Kunst mit der Dreizahl der dreieinige Gott (Vater, Sohn, Heiliger Geist) symbolisiert.
Die beiden flacheren Seitenschreine sind mit den für die Gotik typischen Fialen (kleinere Türme), Kreuzblumen und Wimpergen (giebelartige Bekrönung) verziert. An den Eckseiten des hervortretenden Mittelschreines fallen jeweils zwei Konsolen mit kleinen Baldachinen für insgesamt vier Statuetten auf. Auch diese Statuetten sind leider nicht mehr vorhanden. Über dem Mittelschrein erhebt sich ein großer turmartiger Baldachin, der sich im weiteren Aufbau wieder zweimal zurückstuft. Kunstvoll gearbeitete Strebenbögen mit Fialen bilden dabei Übergänge bis hin zu einer mit Kantenblumen versehenen Spitze. Diese bis in die Gewölbezone des Chorraumes emporragende Spitze wird von einem Pelikan mit seinen Jungen bekrönt (Abb. 19). Nach einer frühchristlichen Legende reißt der Pelikan seine Brust auf, um mit seinem Herzblut die Jungen zu nähren. Deshalb gilt er als Symbol für den Opfertod Christi, der im heiligen Abendmahl vergegenwärtigt wird.
An dieser kunstvoll gearbeiteten Pelikan-Skulptur wird deutlich, wie bedauerlich der Verlust der übrigen Skulpturen ist, die einst als Statuetten den Mittelschrein und das Untergeschoss des Sakramentshauses verziert haben. Wer mag hier dargestellt worden sein? Die vorhandenen Unterlagen enthalten keinerlei Hinweis. Wir sind deshalb auf Vermutungen angewiesen. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden auf den vier Konsolen des Mittelschreins Figuren der beiden Stiftsheiligen Cosmas und Damian gestanden haben - und jeweils an ihrer Seite Petrus und Paulus, die wohl wichtigsten Apostel des christlichen Glaubens. Damit sollte der verehrungswürdige Rang von Cosmas und Damian hervorgehoben werden, denen die Stiftskirche geweiht war. Einer ähnlichen Anordnung sind wir schon bei dem hölzernen Altarschrein aus dem Ende des 15. Jahrhunderts - früher Chorraum, jetzt nördliche Seitenapsis - begegnet (siehe Kap. IV). Auch der um 1860 entstandene Hochaltar zeigt an seinen Eckseiten unterhalb des Giebels die Figurenkombination Cosmas - Paulus und Damian - Petrus. Waren die Statuetten des Sakramentshauses in der Mitte des 19. Jahrhunderts vielleicht noch vorhanden und konnten dem Künstler des Hochaltars als Vorlage dienen?
Bei den verschollenen Statuetten der vierzehn Konsolen des Untergeschosses wird es sich vermutlich um die sog. Vierzehn Nothelfer gehandelt haben. Die Verehrung dieser Heiligengruppe strahlte im Mittelalter von Süddeutschland (Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen!) bis in den norddeutschen Raum aus. Im Wunstorfer Stift werden die vierzehn Nothelfer jedenfalls bekannt gewesen sein. Der hölzerne Altarschrein der nördlichen Seitenapsis zeigt mit der heiligen Barbara, dem heiligen Christopherus und dem heiligen Georg drei Hauptvertreter dieser besonderen Heiligengruppe. Da dieser hölzerne Altarschrein ursprünglich im Chorraum stand, wird man eine solche inhaltliche Beziehung zum benachbarten Sakramentshaus annehmen dürfen.
Abschließend kann festgestellt werden: Der Verlust sämtlicher Statuetten ist sicher schmerzlich, aber er mindert die Bedeutung des Sakramentshauses im Wunstorfer Stift nicht entscheidend. In seiner vielgliedrigen Struktur und in seinen reichen Schmuckformen bleibt es ein Musterbeispiel meisterhafter gotischer Steinmetzkunst. Im weiteren Umkreis sind Sakramentshäuser vergleichbarer Qualität nur in der Loccumer Klosterkirche und in der Stiftskirche von Bücken zu finden.