In der Adventszeit findet er die besondere Aufmerksamkeit der Kirchenbesucher: der Verkündigungsaltar aus dem Ende des 15. Jahrhunderts. Er hat seinen Namen vom Mittelfeld erhalten, das die Verkündigung der Geburt Christi durch den Engel an Maria zeigt. Eine Doppelreihe mit Heiligenfiguren umrahmt diese Verkündigungsszene.
Der hölzerne Altar, dessen Seitenflügel leider verschollen sind, entstand in Braunschweig, einem Hauptort norddeutscher Bildschnitzerkunst.
Von den einst neunzehn mittelalterlichen Altären der Stiftskirche ist er als einziger erhalten. Ursprünglich zierte er den Hochaltar. Vermutlich wurde er dann im Zuge der Reformation als "Nebenaltar" in das nördliche Querschiff verlagert: Die evangelisch gewordenen Gläubigen verehrten zwar weiterhin Maria und die Heiligen als Vorbilder des Glaubens, sahen in ihnen aber nicht mehr zentrale Glaubensgestalten, die man um Fürbitte bei Gott anrief.
Betrachten wir zunächst die Heiligenfiguren näher, die das Mittelfeld mit der Verkündigung umstellen, und beginnen dabei mit der oberen Reihe:
Mit großer Sorgfalt sind an diesem Altar die Attribute der Heiligen ausgeführt. Sie charakterisieren die Tätigkeit oder das Martyrium der Heiligen. Manchmal auch beides. So trägt der Apostel Johannes - oben links - einen Kelch in der Hand: Der Legende nach trachteten einst heidnische Oberpriester aus Ephesus mit einem Giftkelch nach seinem Leben.
Es folgt eine sog. "Anna Selbdritt-Gruppe": Maria steht eng neben ihrer Mutter Anna (Abb. 14). Das Jesuskind auf Marias Arm streckt die Hände zum Kreuz aus - eine symbolische Vorwegnahme seines Passionsweges.
Die Figuren der Apostel Petrus und Paulus umrahmen die obere Hälfte des Mittelfeldes. Beide Apostel tragen ein Buch in der Hand als Hinweis auf die von ihnen verkündete Heilsbotschaft. Als zusätzliches Attribut hat Petrus zwei Schlüssel als Symbol seiner von Jesus verliehenen Entscheidungsgewalt über den Zugang zum Himmelreich. Zusatzattribut bei Paulus ist das Schwert durch das er in Rom den Märtyrertod fand.
Neben Paulus erkennen wir die heilige Barbara (Abb. 17), die im 3. Jahrhundert im östlichen Mittelmeer gelebt haben soll. Als Zeichen ihrer vornehmen Herkunft trägt sie eine Krone. In der katholischen Kirche gilt Barbara als Schutzheilige der Sterbestunde. Attribut dafür ist der Abendmahlskelch in der linken Hand. Das Schwert in der rechten Hand weist auf ihren Märtyrertod hin.
Der heilige Christopherus (griechisch: "Christusträger", Abb. 15) mit dem Jesuskind auf seinen Schultern schließt die obere Figurenreihe ab. Er wird als Schutzpatron aller Pilger und Reisenden verehrt.
Der Stab in seiner Rechten ist ein Symbol für das Wort Gottes, auf das sich der Mensch in aller Not stützen kann.
Die untere Figurenreihe beginnt links mit der Darstellung des Erzengels Michael. Triumphierend steht Michael mit der Lanze in den Händen auf einem von ihm bezwungenen Dämon, dem Symbol des Bösen in der Welt.
Daneben sehen wir Maria Magdalena. Die Bibel berichtet, daß sie Jesus die Füße gesalbt hat. Deshalb trägt sie als Attribut eine Salbenbüchse.
Es folgen die Heiligen Cosmas und Damian (Abb. 10). Unentgeltlich heilte das ärztliche Bruderpaar aus Kleinasien im 3. Jahrhundert Menschen und Tiere. Als Schutzheilige der Ärzte und Apotheker halten sie Harnglas und Salbenbüchse in ihren Händen. Um 1020 wurden Cosmas und Damian Kirchenpatrone des Wunstorfer Stifts (s. Kap. III).
Ritterrüstung, Lanze und der besiegte Drache als Symboltier des Lebensfeindlichen gelten als Attribut des heiligen Georg. Als christlicher Offizier diente er im römischen Heer und fand um 303 den Märtyrertod. Die Gläubigen des Mittelalters sahen in ihm ein Vorbild der Christen im Kampf gegen das Böse.
Am Ende der unteren Figurenreihe ist der heilige Sebaldus dargestellt, der vor allem im süddeutschen Raum als Pilger und Glaubensbote gelebt haben soll. Seine Attribute sind Pilgerhut, Pilgerstab und ein Kirchenmodell, das auf die Stätte seines Grabes, die Nürnberger Sebalduskirche, hinweist.
Doch nun zum Mittelfeld des Verkündigungsaltars (Abb. 16): Der biblische Bericht von der Ankündigung der Geburt Christi (Lukas 1, 26-38) hat hier eine künstlerisch eindrucksvolle Darstellung erfahren.
Unter reichverzierten gotischen Baldachinen sehen wir die Hauptgestalten des adventlichen Geschehens: Mit erhobener Hand tritt der Engel Gabriel an Maria heran und verkündet ihr die Geburt Jesu. Flügel und Lilienzepter weisen ihn als besonderen Boten Gottes aus. Marias Hand ruht auf der geöffneten Bibel, die auf einem Betpult liegt. Nach alter Tradition zeigt Maria auf die prophetische Weissagung des Jesaja von der Geburt des Gottessohnes.
Außer dem Engel als Symbolfigur für die Verbindung Gott - Mensch sieht man zunächst nichts, was auf diese Verbindung noch hinweist.
Anders als auf vielen Verkündigungsbildern (z.B. auf dem Epitaph des Johan Sotefleisch im Chorraum der Stiftskirche) fehlen Darstellungen von Gottvater selbst, vom Heiligen Geist in Gestalt einer Taube oder von Lichtstrahlen als Verbindungszeichen von "oben" nach "unten". Dennoch gibt es Zeichen und Hinweise dafür - und darin erweist sich der Schnitzer unseres Altars als Meister christlicher Symbolkunst: Die Dreizahl der gotischen Baldachinbogen versinnbildlicht die Gegenwart des dreieinigen Gottes. Die Vierblattleiste am unteren und oberen Rand des Mittelfeldes weist auf die vier Evangelien hin und die Botschaft Gottes, die sie enthalten. Die vorherrschenden Farben Rot, Gold, Blau schließlich werden zum weihnachtlichen Gruß an den Betrachter des Altars: In der mittelalterlichen Kunst sind sie ein Symbol für die in Christus erschienene Liebe Gottes (Rot), die zum tragenden Grund (Gold) menschlichen Lebens und Zusammenlebens werden will - und damit zur Hoffnung (Blau) für unsere Welt.