Kunstwerke aus romanischer Zeit sind in Niedersachen nicht eben zahlreich. Zu den wenigen von Rang darf man drei Türbogenfenster (Tympana) der spätromanischen Stiftskirche in Wunstorf zählen. Vermutlich sind sie im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts entstanden.
Das Türbogenfeld (Tympanon) über dem Westportal hat ursprünglich die Tür des südlichen Seitenschiffes geschmückt. Die Südseite war die Hauptfront der Stiftskirche. Hier lagen die Hauptportale, wie ein weiteres Tympanon über der Tür des südlichen Querschiffs zeigt.
Zunächst ein paar allgemeine Hinweise zur Entstehungsgeschichte des Tympanons: Das antike Portal war oben waagerecht abgeschlossen. Als Schmuck diente lediglich ein auf Konsolen ruhendes Gesims, wie das berühmte Beispiel der Akropolis in Athen zeigt. Auch bei den Römern blieb diese waagerechte Abdeckung bis ins 4./5. Jahrhundert hinein vorherrschend. Erst als im 5. Jahrhundert der Gewölbebau möglich war, wurden Portalöffnungen mit Bogen versehen. In der romanischen Bauperiode, von 1000 bis etwa 1250, füllte man die rundbogigen Portale mit Türbogenfeldern aus, die anfangs glatt und rahmenlos blieben, dafür aber bemalt waren. Unter dem bis in unseren Raum hineinreichenden Einfluß der Bauschule des süddeutschen Klosters Hirsau erhielten die Tympana vertiefte, oft zweigeteilte Mittelfelder mit profiliertem Rahmen und reichem plastischen Schmuck. Dieser plastische Schmuck verdient unsere besondere Aufmerksamkeit. Keineswegs war er nur Zierat, der das Auge erfreuen sollte, sondern künstlerischer Versuch, in der "Sprache" des Sinnbildes, des Symbols, wesentliche Glaubensinhalte zu vermitteln. Auch der des Lesens Unkundige sollte sie verstehen können.
Diesem religiösen Bedeutungsgehalt wollen wir nachgehen, wenn wir nun die romanischen Tympana der Stiftskirche näher betrachten: Das Tympanon über dem Westportal (Abb. 1) hat ein zweigeteiltes Mittelfeld, das von einem Perlstab mit reichhaltigen Blattornamenten umrahmt wird. In der mittelalterlichen Symbolik gelten Blatt- und Pflanzenornamente als Hinweis auf die Schöpfermacht Gottes. Aber auch das leere Mittelfeld selbst enthält mit seiner Zweiteilung eine religiöse Aussage: In der Zahlensymbolik der alten Kirchenväter soll die Zweizahl an die zwei Gebotstafeln Gottes, an die menschliche und göttliche Natur Christi und an die beiden Hauptteile der Bibel, das Alte und das Neue Testament, erinnern.
Noch aussagekräftiger ist das Tympanon über dem südlichen Querschiffportal (Abb. 2). Auch hier erkennen wir ein zweigeteiltes Mittelfeld und die auf Gott den Schöpfer verweisenden Blattornamente des Rahmens. Auffallend ist dabei die aus Blattstengeln gebildete S-förmige Linie, die den Rahmen durchzieht. In der romanischen Symbolik kennzeichnet eine solche Linie das Schwanken des Menschen zwischen Gut und Böse. Als "Entscheidungssymbol" mahnt sie den Betrachter, den gradlinigen Weg der Gebote Gottes zu wählen. Das von dieser S-förmigen Linie umrahmte Mittelfeld zeigt zwei Bäume, deren blattgeschmückte Äste an den Enden zusammenwachsen. Der Baum gehört zu den ältesten Symbolen der Menschheit. Im Denken der Antike ist er das Hauptsymbol der Fruchtbarkeit, geheimnisvolle Quelle des Lebens, Verbindung zwischen Erde und Himmel. Die Bibel, die oft unbefangen heidnische Symbole übernommen und umgedeutet hat, kennt den Baum der Erkenntnis, von dem Adam und Eva nicht essen dürfen, den "Stamm Jesse", aus dem Christus als Frucht hervorgeht, den Lebensbaum, dessen Blätter zur Heilung der Völker dienen. In Verbindung mit der "Entscheidungssymbolik" des Rahmens wird der Künstler unseres Tympanons vielleicht an den Baum aus Psalm 1 gedacht haben, der mit seinen nie verwelkenden Blättern zum Sinnbild eines gottgefälligen, Frucht bringenden Lebens wird.
Auf dem Tympanon über der Sakristeitür (Abb. 3) erkennen wir im symmetrisch geteilten Mittelfeld zwei Vögel. Offenbar schreiten sie in friedlicher Absicht aufeinander zu. Darauf deutet die Inschrift des Rahmens hin: "pax huic domui et omnibus" (Friede sei diesem Haus und allen Häusern!).
Der christliche Friedenswunsch meint den irdischen, aber auch den ewigen Frieden, den der Mensch in der Stunde des Todes bei Gott findet. Deshalb wird man bei den Vögeln unseres Tympanons an Pfaue zu denken haben. Seit uralter Zeit gelten sie als Unsterblichkeitssymbole, weil man ihr Fleisch für unverweslich hielt. Schon im 2. Jahrhundert finden sich in vielen Katakomben, den unterirdischen Grabanlagen der frühen Christenheit, zwei im Profil abgebildete, sich gegenüberstehende Pfauenvögel. Als Symbol der bewahrenden Liebe Gottes, die stärker ist als der Tod, sehen wir sie auch auf unserem Tympanon.
Als die Christen nicht mehr verfolgt wurden und vom Ende des 4. Jahrhunderts an Kirchen bauen durften, maßen sie der Verzierung der Portale besondere Bedeutung bei. Sie machten daraus eine Einladung an die Vorübergehenden, innezuhalten, einzutreten und in der Bildersprache der Kunstwerke, sowie im Hören der biblischen Botschaft Wegweisung und Trost zu erfahren. Auch die romanischen Türbogenfelder der Stiftskirche haben diese einladende und verkündigende Absicht - seit über 700 Jahren bis in unsere Zeit.